
100 Prozent regenerativ: Solarwärme liefert Großteil der Wärme für hessisches Dorf
Ein hessisches Dorf geht in Sachen Wärmewende voran: Der Ortsteil Bracht in Rauschenberg hat jetzt ein wegweisendes Anlagensystem aus Solarthermie, zwei Wärmepumpen, einem Holzkessel und einem großen Erdbeckenspeicher in Betrieb genommen. Es versorgt die 193 angeschlossenen Häuser komplett regenerativ mit Wärme.
Rund 70 Prozent der Wärmeleistung stammen zukünftig aus 11.600 Quadratmeter Solarthermie-Kollektoren, kombiniert mit einem mit Wasser gefüllten 26.600 Kubikmeter Erdbeckenspeicher. Der Rest der benötigten Wärme stammt aus einem Holzkessel. Zwei Großwärmepumpen vervollständigen die Anlage. „Dass ein bestehendes Dorf komplett regenerativ mit Wärme versorgt wird, und das überwiegend mit Solarthermie, das ist etwas weltweit Neues“, sagt Prof. Klaus Vajen vom Institut für Thermische Energietechnik der Universität Kassel. Er leitet das wissenschaftliche Begleitvorhaben, das Förderprojekt ruralHeat. Im Gegensatz zu bisher gebauten Nahwärmenetzen, in denen üblicherweise 20 bis maximal 40 Prozent der benötigten Wärme durch Solarwärme gedeckt wird, ist die Wärmequelle in Bracht primär solar. „Das Herausragende ist, dass man mit so einer Anlage von einem auf den anderen Tag die CO₂-Emissionen aus der Wärmeversorgung für ein ganzes Dorf um 98 Prozent reduzieren kann“, so Vajen. „Das würde bei individuellen Sanierungen aller Häuser bei der aktuellen Sanierungsrate eher 200 Jahre dauern, wobei die Kosten ungefähr gleich wären.“
60 Prozent Beteiligung im Dorf durch geringen Aufwand und soziale Dynamik
Bei der Wärmewende wird in ländlichen Gebieten bisher eher auf energetische Sanierungsarbeiten und eine individuelle Wärmeversorgung, etwa durch Wärmepumpen, gesetzt. Größere Wärmenetze scheitern in der Regel an den im Vergleich zu Innenstädten weiter auseinanderliegenden Abnehmern. Das in Bracht installierte Solarwärmenetz ist nun aber auf einen vergleichsweise kleinen Abnehmerkreis ausgelegt. Es sei der flächendeckenden individuellen Sanierung aus verschiedenen Gründen vorzuziehen, erläutert Professor Vajen. In Dörfern seien die Bewohnerinnen und Bewohner oft älter als der Durchschnitt der Bevölkerung. Dazu komme, dass auch die Häuser oft älter und zudem renovierungsbedürftiger seien und der Wert der Häuser eher unter dem Durchschnitt liege.
„Das alles sind Voraussetzungen, die nicht dazu führen, dass die Bewohner umfangreiche Renovierungsmaßnahmen vornehmen – sie zögern die Entscheidung oft hinaus, scheuen den Aufwand.“ Bei einem zentral angelegten Projekt wie dem in Bracht müssen sich jedoch alle direkt entscheiden – sollen wir unser Haus anschließen oder nicht? Der Aufwand für die Einzelnen ist geringer, die Kosten hingegen vergleichbar zu anderweitigen Sanierungsarbeiten. „Über eine aktive Genossenschaft vor Ort kann man dann über die soziale Dynamik einen Großteil der Leute überzeugen“, berichtet Professor Vajen. In Bracht sind künftig gut 60 Prozent der Häuser an das Nahwärmenetz angeschlossen.
Ehrenamtliches Engagement als Grundlage für Bauprojekt
Das Bauprojekt ist zu großen Teilen durch die Genossenschaft übernommen worden, die eigens für die Wärmeversorgung des Dorfes gegründet wurde. Ohne erhebliches ehrenamtliches Engagement wäre das nicht möglich gewesen: Die Bewohnerinnen und Bewohner, darunter viele Rentnerinnen und Rentner, haben die Anlage zum Teil sogar mit aufgebaut. Darüber hinaus konnten interessierte Studierende sich hier sogar beim Bau des Speichers beteiligen und erleben, wie Simulationen und realer Bau ineinandergreifen – das Projekt dient damit auch als Lehrbeispiel für die Nachwuchsförderung. Durch das Engagement aller Beteiligten seien ganz pragmatische Lösungen möglich gewesen, berichtet Vajen. Das Auffüllen des Speichers etwa wäre mit der herkömmlichen Wasserversorgung gar nicht möglich gewesen.
Durch den Erwerb von 2,5 Kilometer langen Feuerwehrschläuchen wurde eine direkte Leitung vom nächstgelegenen Brunnen gelegt und der Speicher schließlich in sechs Monaten gefüllt. Für die Zukunft wünscht er sich geeignete Fördermöglichkeiten, sollten andere Dörfer vergleichbare Anlagen bauen wollen: „Aktuell kann man durch eine Bundesförderung 40 Prozent gefördert bekommen“, erklärt Vajen. Für bestehende Wärmenetze, die um regenerative Anteile erweitert werden sollen, sei das vielleicht ausreichend. „Möchte ich aber auf der grünen Wiese etwas völlig Neues mit 100 Prozent regenerativer Wärmeversorgung bauen, dann reicht das nicht.“
Förderprojekt ruralHeat unterstützt Genossenschaft bei Betrieb und Regelung
Zu Beginn lieferte die Universität Kassel mit einer Machbarkeitsstudie die technischen Grundlagen für die komplexe Anlage. Innerhalb des Förderprojekt ruralHeat begleiten die Forschenden die Bauarbeiten von wissenschaftlicher Seite. Betrieb und Regelung der komplexen Anlage haben sie in Simulationen berechnet und optimiert, die grundlegenden Daten zur Auslegung sind hierbei entstanden. „Wir haben zum Beispiel verschiedene Varianten von Systemkonfigurationen verglichen, um zu schauen, was unter welchen Voraussetzungen das geeignetste ist“, erklärt Vajen. Planung, Installation, Inbetriebnahme, Troubleshooting – das alles seien herausfordernde und spannende Arbeiten gewesen. Zum Beispiel sei die ursprünglich geplante Hydraulik aufgrund der Materialverfügbarkeiten nicht wie geplant umgesetzt worden, Rohrlängen und -durchmesser seien teils anders ausgefallen als gedacht und Messinstrumente, die in der Erde funktionieren, mussten für Messungen im Wasserspeicher angepasst werden.
Ein ausgefeiltes Messkonzept mit mehreren hundert Messstellen dient als Grundlage für die wissenschaftliche Begleitung. An einem Punkt gelang es so, einen großen Kostenpunkt einzusparen. Ursprünglich sollte für rund 300.000 Euro ein Stagnationsschutz eingebaut werden, berichtet Professor Vajen: „Da haben wir ausgerechnet, dass das eigentlich gar nicht nötig ist, weil man in Verbindung mit dem großen Speicher das ohnehin vorhandene Flachkollektorfeld auch zum Kühlen nehmen kann.“
Leitfaden und Vorauslegungstool für Kommunen und Bürgerinitiativen in Arbeit
Zeitlich etwas versetzt zu Rauschenberg-Bracht hat sich das nur 20 Kilometer entfernte Dorf Rüdigheim ebenfalls auf den Weg zum Solardorf gemacht, der Baubeginn ist für Ende 2025 geplant. Auch hier liegt die wissenschaftliche Begleitung bei Professor Vajen und seinem Team. Die Daten der beiden Bauprojekte fließen in die abschließende Betrachtung von ruralHeat mit ein. Anhand von zehn geplanten Fallstudien werden die Forschenden schließlich prüfen, unter welchen Voraussetzungen die Ergebnisse auf andere ländliche Gebiete übertragen werden können.
Am Ende entsteht ein webbasiertes Vorauslegungstool, das verschiedene technologische und energiewirtschaftliche Konzepte für 100 Prozent erneuerbare Nahwärme vorstellt und vergleicht. Das soll Kommunen und Bürgerinitiativen dabei unterstützen, die eigenen Möglichkeiten zu eruieren und die lokal am besten geeigneten Lösungen zu finden. Sie sollen dadurch bereits im frühen Stadium ihrer Planungen auf eine Vorauswahl möglicher Nahwärmelösungen zurückgreifen können. Damit das Beispiel von Bracht noch viele Nachahmer finden kann. (mb)
Das Bauprojekt wird durch das Land Hessen gefördert.