Sektorkopplung
Energie-Agenten steuern hybride Energiesysteme
Im Forschungsprojekt Agent-HyGrid erarbeiteten und erprobten die Forscher einen universellen Ansatz, mit dem beliebige Energiewandlungssysteme softwarebasiert modelliert, flexibilisiert und gesteuert werden können. Hierzu entwickelten sie das Konzept vereinheitlichter Energie-Agenten, also teilselbstständige, dezentral operierende Softwaresysteme, die unabhängig vom Energieträger im Energie-Verteilnetz eingesetzt werden können. Sie ergänzen dabei die automatisierungstechnischen Systeme von Energieanlagen. Auf diese Weise können verteilte Energiesysteme in einer größeren Anwendung zusammengeführt werden. Beispielsweise wie für das Projekt Agent.HyGrid geschehen, in der Verteilnetzautomatisierung.
Zur Flexibilisierung von Energiesystemen und -netzen müssen sich Energiemarktteilnehmer informations-technisch koordinieren. Die entsprechenden Lösungen sind aber in der Regel proprietär. Dies verhindert Interoperabilität und ermöglicht Monopolbildung. Zudem beschränken sie sich meist nur auf den Stromsektor.
Bei zunehmend dezentraler Erzeugung und steigendem Bedarf an Koordination von Energieerzeugung und -verbrauch sowie der Sektorenkopplung ist eine isolierte, auf einzelne Energieträger bezogene Betrachtungsweise nicht ausreichend. Stattdessen müssen Strom-, Gas- und Wärmenetze gemeinsam betrachtet und Umwandlungsprozesse zwischen diesen Energieträgern abgebildet werden. Dies erfordert aus Sicht der Projektpartner einen standardisierten, offenen sowie herstellerneutralen und spartenübergreifenden Flexibilisierungsansatz. Mit dem strukturierten agentenbasierten Konzept des Projekts Agent.HyGrid konnte ein derartiger Ansatz realisiert und erprobt werden.
Der Lehrstuhl für Datenverwaltungssysteme und Wissensrepräsentation (DAWIS) an der Universität Duisburg-Essen bringt hierzu seine Kompetenzen im Bereich des Entwurfs und der Entwicklung von Agentensystemen ein. Frühere Entwicklungen des DAWIS, wie die Simulations- und Laufzeitumgebung Agent.Workbench sowie das Energie-Optionsmodell, bilden hierbei eine wichtige Grundlage für das Projekt Agent.HyGrid.
Der Schwerpunkt des Instituts für Automatisierungstechnik (IfA) der Helmut Schmidt Universität Hamburg im Projekt Agent.HyGrid liegt in der Modellierung von Systemen, dem Entwurf von Regelungsalgorithmen sowie der Definition eines Entwicklungsprozesses für Energie-Agenten.
Der Lehrstuhl für Elektrische Energieversorgungstechnik (EVT) an der Bergischen Universität Wuppertal bringt Erfahrungen im Bereich der Netzmonitoring und –steuerung ein.
Beispielsweise wurde hier bereits die Verteilnetzautomatisierungslösung iNES federführend und gemeinsam mit Industriepartnern entwickelt. Im Rahmen von Agent.HyGrid wird die Funktionsweise dieses Systems mit Hilfe von Energie-Agenten nachgebildet und erweitert. Im Projekt übernimmt das EVT unter anderem die Entwicklung von Algorithmen zur Bestimmung und Regelung von elektrischen Niederspannungsverteilnetzen.
Die softwaretechnische Basisstruktur von Energie-Agenten ist unabhängig vom zu repräsentierenden Energiesystem oder vom Anwendungskontext gleichartig. Dies erhöht die Wiederverwendbarkeit von Softwarebestandteilen, reduziert Entwicklungsaufwände und fördert eine Fokussierung auf konkrete Entwicklungsherausforderungen. Darüber hinaus ermöglicht die Gleichartigkeit von Energie-Agenten eine durchgängige Nutzung im durch Agent.HyGrid definierten Entwicklungsprozess, der Design und Implementierung, Simulationen, Testbed-Szenarien (Stichwort: Hardware/Software-in-the-Loop) sowie die Verwendung im Feld umfasst. Hierzu werden Energie-Agenten bereits für Simulationen so implementiert wie es später auch die Feldumgebung erfordert.
Dazu musste das Verhalten von Energiesystemen sowie die hiermit verbundenen Flexibilitätspotenziale detailliert und realitätsnah abgebildet werden können, damit das verbundene operative Betriebswissen für verschiedene Einsatzzwecke genutzt werden konnte; beispielsweise für Simulationen oder für eine modellprädiktive Steuerung realer Systeme.
Eine wichtige Rolle spielt das Betriebswissen – also alle Ein- und Ausgangsinformationen (Mess- und Sollwerte) sowie die systeminternen Prozesse und die korrespondierenden Berechnungen. Aus diesen leiten die Forscher etwa die Flexibilität ab.
Die Kapselung dieses Betriebswissens erfolgt mit Hilfe des sog. Energie-Optionsmodells (EOM), sodass eine Vielzahl von modular einsetzbaren Einzelsystemmodellen entsteht. Diese lassen sich vielfältig nutzen. So ist es einerseits möglich, sie planerisch zur Betriebsoptimierung und Fahrplanerstellung einzusetzen oder andererseits im Rahmen einer Echtzeitkontrolle, wie sie im Projekt Agent.HyGrid entwickelt wurde. Da sich Einzelsysteme zu einem beliebigen „System von Systemen“ aggregieren lassen, können darüber hinaus viele weitere Anwendungsfälle adressiert und zu real nutzbaren Kontrolllösungen weiterentwickelt werden. Beispielsweise zur Koordination von Ladevorgängen im Bereich der Elektromobilität, zur Steuerung virtueller Kraftwerke oder für Smart Buildings.
Energie-Agenten nutzen EOM-Modelle als Grundlage für Kontrollentscheidungen, um so beispielsweise Betriebsmittelgrenzen einzuhalten oder Optimierungen in der Betriebsweise eines Energiesystems zu realisieren. Kriterien können dabei Energieeffizienz, Kosten- oder Erlösoptimierung sein. Aufgrund ihrer grundsätzlichen Fähigkeit zur Kommunikation sind Softwareagenten (und somit auch die Energie-Agenten) zudem in der Lage, ihre Handlungen mit anderen Agenten oder zentralen Kontrolleinheiten zu koordinieren. Diese grundlegenden Fähigkeiten erlauben somit eine flexible Verortung der eigentlichen Kontrolllogik, so dass verschiedene Abstufungen einer dezentralen Steuerung realisiert werden können. Entsprechend können auch Energie-Agenten zentral oder dezentral auf unterschiedlichen Steuerungseinheiten ausgeführt und unabhängig vom jeweiligen Marktdesign angepasst werden.
Im Rahmen des Projekts Agent.HyGrid wurde die Entwicklung von Energie-Agenten systematisiert und hierzu die agile Entwicklungsmethodik 2DECS entworfen und erprobt. Darüber hinaus wurden konkrete anwendungsbezogene Energie-Agenten für ein elektrisches Verteilnetz implementiert, im Rahmen des definierten Entwicklungsprozesses iterativ entwickelt und abschließend in einem Feldtest erprobt. So entstanden neben einer Java-basierten Grundstruktur für Energie-Agenten eine umfassende Software-Toolchain, die ihre Anwendung in jeder Phase des Softwarelebenszyklus von Energie-Agenten findet. Außerdem wurde auf Basis dieser Software-Toolchain eine agentenbasierte Verteilnetzautomatisierung entwickelt, die den aktuellen Netzzustand bestimmt und im Falle einer Spannungsbandverletzung oder einer Kabelüberlastung eine multiagentenbasierte Regelung zur Behebung des kritischen Netzzustands ausführt.
Meilensteine und Erfolge
Im ersten Schritt wurde auf Grundlage realer Mess- und Topologiedaten eine agentenbasierte Simulation eines realen Verteilnetzes entwickelt - zunächst auf Grundlage statischer Zeitreihen, um die entwickelte, dreiphasige Lastflussberechnung zu validieren und kritische Netzzustände identifizieren zu können. Im nächsten Schritt wurden einzelne Komponenten mit dynamischen EOM-Modellen ausgestattet und im Rahmen von Simulationen Kontrollstrategien zur Behebung von Spannungsbandverletzungen und Kabelüberlastung in elektrischen Niederspannungsverteilnetzen entwickelt.
Parallel hierzu entwickelten die Forscher einen Deployment-Prozess, durch den Energie-Agenten automatisiert auf dedizierte Hardware transferiert und ausgeführt werden können. Auf eigener Hardware ausgeführte Energie-Agenten wurden anschließend wieder in die Simulationsumgebung eingebunden, so dass sie weiterhin den durch ein Szenario festgelegten Anwendungskontext besitzen (z.B. Topologie, Datengrundlage, Laufzeitinformationen).
Durch die Anbindung über geeignete automatisierungstechnische Schnittstellen wurden darüber hinaus auch reale Energiesysteme in die Simulation eingebunden und somit eine automatisierungstechnische Testbed- bzw. Labor-Umgebung geschaffen, die eine Erprobung von Kontrolllösungen unter Einbeziehung realer Energiesysteme in einem umfassenden Anwendungsszenario ermöglicht.
Im abschließenden Feldtest konnten die Forscher die entwickelte agentenbasierte Verteilnetzautomatisierung erproben und so die Durchgängigkeit und Anwendbarkeit von Energie-Agenten erfolgreich nachweisen.
Aus dem Projekt Agent.HyGrid konnten sie zudem eine Reihe von Folgeprojekten entwickeln, die eine Anwendung von Energie-Agenten auf verschiedene Anwendungsdomänen erweitert. Hierzu zählen beispielsweise Mittelspannungs- und Wärmenetze sowie Industrieanlagen.
Anwendungsreifes Produkt, Tool, Werkzeug, Software
Zu den im Projekt Agent.HyGrid entstandenen Werkzeugen und Lösungen gehören:
• eine agile Entwicklungsmethodik für Energie-Agenten
• eine umfassende Software-Toolchain
• eine Verteilnetzautomatisierung für elektrische Niederspannungsverteilnetze
Die Grundlage für das agentenbasierte Softwaresystem bildet das quelloffene Software-Framework und Benutzer-Toolkit Agent.Workbench sowie das am DAWIS entwickelte Energie-Optionsmodell. Hierauf aufbauend wurde der Ansatz des Energie-Agenten als ergänzendes Feature entwickelt.
Als öffentlich zugängliches Beispiel für die Anwendung von Energie-Agenten in elektrischen Verteilnetzen dient das unter GitHub zur Verfügung gestellte Beispiel „Energy Agents“. Dort befinden sich auch Verweise auf vertiefende Literatur und Tutorials, die langfristig erweitert werden sollen.
Den Forschungsbericht finden Sie beim Leibniz-Informationszentrum Technik und Naturwissenschaften (TIB).