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Forschungsprojekt Abwärmeatlas
Wo die ungenutzte Wärmeenergie der deutschen Industrie schlummert

03.11.2022 | Aktualisiert am: 15.11.2024

Ein Forschungsteam hat industrielle Abwärme genau unter die Lupe genommen, Unternehmen befragt und Technologien analysiert. Das Ergebnis: Verstecktes Abwärmepotenzial gibt es in den unterschiedlichsten Prozessen. Und die notwendigen Technologien stehen bereits in den Startlöchern.

Das Wichtigste in Kürze

  • Unternehmensbefragung ergibt: Etwa die Hälfte nutzen bereits Abwärme
  • Aber: Der Wissensstand über die eigenen Energiekosten und die entstehende Abwärme ist gering
  • Vor-Ort-Untersuchungen zeigen: Schlummerndes Potenzial wird oft nicht richtig erfasst
  • Verschiedene Technologien sind nötig, um alle Abwärmequellen effizient zu nutzen
  • Weitere Technologieentwicklung ist nötig, um wirtschaftliche Abwärmenutzung in die Breite umzusetzen
  • Handlungsempfehlung: Experten und Unternehmen zusammenbringen, Energieberater involvieren, Netzwerke bilden
  • Daten- und Kenntnisbasis kann als Grundlage für weitere Forschung und Entwicklung dienen

Hoch- und Schmelzöfen, Trocknungs- und Lüftungsanlagen, Maschinen und Motoren haben eines gemeinsam — sie alle produzieren Abwärme. Je nach Prozess fällt diese überschüssige Wärme auf verschiedenen Temperaturniveaus an und wird etwa über Abluft, Abgase oder als diffuse Strahlungswärme an die Umwelt abgegeben. Nicht nur bleibt die kostbare Wärme so ungenutzt — oft wird zusätzlich noch Energie für Lüftungssysteme, Pumpen und andere Aggregate eingesetzt, die den Wärmestrom aus einer Anlage leiten und an die Umgebung abgeben. Würde die Abwärme stattdessen wiederverwertet, könnten Unternehmen sowohl ihre Energiekosten senken, als auch CO2-Emissionen reduzieren.

Entscheidende Faktoren ermitteln und Hemmnisse abbauen

Abluft-Schornsteine einer Fabrikhalle © patila - stock.adobe.com
Abwärme wird oftmals über die Abluft abgegeben. Dabei schlummert in ihr ein großes Potenzial, um an anderer Stelle Energie einzusparen.

Doch Abwärme ist nicht gleich Abwärme. Faktoren wie die Temperatur, die Art der Wiederverwertung und der Zeitpunkt der Entnahme entscheiden darüber, wie viel Wärmeenergie tatsächlich genutzt werden kann. Das Abwärmepotenzial der deutschen Industrie konnte daher bisher nur näherungsweise ermittelt werden. So haben Studien (u.a. Brückner, 2016) beispielweise Abgaswerte analysiert, um Rückschlüsse auf die nutzbare Abwärme zu ziehen. Ein Forschungsteam wollte es genauer wissen und hat im Forschungsprojekt Abwärmeatlas Unternehmen verschiedener Branchen zu ihrer Abwärmenutzung befragt, Vor-Ort-Untersuchungen durchgeführt und verfügbare Technologien analysiert.

„Wir wollten herausfinden, wie viel Abwärme in der deutschen Industrie anfällt, wo diese bereits wiederverwertet wird und welche Maßnahmen und Innovation dabei helfen können, Hemmnisse bei der Abwärmenutzung zu überwinden“, erklärt Projektleiter Dr. Olaf Schäfer-Welsen vom Fraunhofer-Institut für Physikalische Messtechnik IPM. „Mit unseren Ergebnissen tragen wir dazu bei, die Abwärmenutzung in der deutschen Industrie zukünftig koordiniert und zielorientiert voranzubringen.“

Neben dem Fraunhofer IPM waren zudem das Institut für ZukunftsEnergie- und Stoffstromsysteme (IZES) und das Institut für Demoskopie Allensbach (IfD) am Projekt beteiligt.

„Mit unseren Ergebnissen tragen wir dazu bei, die Abwärmenutzung in der deutschen Industrie zukünftig koordiniert und zielorientiert voranzubringen.“
Projektleiter Dr. Olaf Schäfer-Welsen vom Fraunhofer-Institut für Physikalische Messtechnik (IPM)

Unternehmensbefragung: Ansetzen, wo die Abwärme entsteht

Um eine fundierte datenbasierte Grundlage zu schaffen, sollten zunächst die Unternehmen selbst zu Wort kommen. Dazu haben die Forschenden einen Fragebogen entwickelt, gepaart mit einem Erhebungskonzept. Mit diesem befragten sie eine Stichprobe von Unternehmen der energieintensivsten Branchen zu deren ungenutzten Wärmequellen. Insgesamt wertete das Projektteam 588 Datensätze aus.

Etwa die Hälfte der befragten Unternehmen (54 Prozent) nutzte bereits Abwärme — große Betriebe häufiger als kleine. Von den Unternehmen, die keine Abwärme nutzten, gaben 44 Prozent an, dass nach eigener Einschätzung kein ausreichendes Abwärmepotenzial vorhanden sei. Bei den Betrieben mit hohen Energiekosten und solchen, die bereits Abwärme nutzten oder dies planten, hat sich gezeigt: Sie waren besonders an Informationen zum Thema und einer fachlichen Beratung interessiert. Die Forschenden fanden zudem Hinweise, dass die Unternehmen nur einen geringen Wissensstand über ihre eigenen Energiekosten und die entstehende Abwärme haben. Insgesamt 86 Prozent der Befragten konnten die jährliche Abwärmemenge im eigenen Betrieb nicht abschätzen. 33 Prozent konnten zudem keine Angabe machen, wie das Verhältnis der betrieblichen Energiekosten zu den Gesamtkosten aussieht.

Abwärmeatlas: Die Stichprobe in Zahlen

In der Stichprobe kam ein Gesamtabwärmeaufkommen von 2.300.046 Megawattstunden pro Jahr sowie ein jährlicher Exergieanteil von 523.711 Megawattstunden zusammen. Größter Abwärmeproduzent innerhalb der Stichprobe ist die Papierindustrie. Die größte Abwärmequelle ist mengenmäßig die Prozesswärme. Insbesondere Wasserdampf, Luft und Rauchgas spielen eine bedeutende Rolle als Abwärmemedien. Meist entsteht Abwärme auf einem Temperaturniveau von 111 bis 275 Grad Celsius, aber auch über 400 Grad Celsius fallen große Mengen an.

Eine Hochrechnung auf die in Deutschland wirtschaftlich nutzbare Abwärmemenge ist aufgrund der großen Prozess- und Anlagenvielfalt, der unterschiedlichen Temperaturniveaus und der Abhängigkeit von geeignetem Wärmebedarf in räumlicher Nähe nur sehr eingeschränkt möglich. Es wird anhand von Literaturdaten ein wahrscheinliches Potenzial zwischen 130 und 250 Petajoule pro Jahr (36 bis 69 TWh pro Jahr) angenommen, wobei die obere Grenze der Abschätzungen bei 570 Petajoule jährlich liegt.

„Dieser Befund könnte ein Beleg dafür sein, dass bei den Unternehmen zum Zeitpunkt des Projektes andere Aufgaben als die Reduzierung der Energiekosten im Vordergrund standen, sicherlich auch bedingt durch die operativen und finanziellen Rahmenbedingungen“, sagt Dr. Olaf Schäfer-Welsen vom Fraunhofer IPM. „Mit weiter steigenden Energiepreisen oder veränderten Rahmenbedingungen könnte sich dies aber ändern.“

Vor Ort zeigen sich Potenziale, aber wirtschaftliche Hürden

Um ein besseres Verständnis darüber zu gewinnen, wie das Abwärmeaufkommen aussieht und sich dieses nutzbar machen lässt, besuchten die Forschenden in einem zweiten Schritt fünf ausgewählte Betriebe. Dort untersuchten sie Wärmequellen und wie diese wirtschaftlich genutzt werden könnten. So stellten die Projektpartner beispielsweise fest, dass über die Ventilatoren einer Papiermaschine erhebliche Mengen an Abwärme ungenutzt in die Atmosphäre entlassen werden. Im Winterbetrieb summiert sich dies sogar auf eine Leistung von mehreren hundert Kilowatt. Genauer identifizierten die Forschenden zudem Hemmnisse, Forschungsbedarfe und Ideen zu verbesserten Rahmenbedingungen. Bei einem Hersteller von Metallerzeugnissen kamen sie etwa zu dem Ergebnis, dass zwar noch ungenutzte Abwärmepotenziale vorliegen, diese aber nur dann wirtschaftlich verwertet werden könnten, wenn sich im Umfeld der Firma potenzielle Abnehmer befänden.

Eine Industrieanlage wird mit einer Wärmebildkamera betrachtet. © Kadmy - stock.adobe.com
Industrieprozesse laufen oft unter hohen Temperaturen ab. Die Abwärme zu nutzen ist daher naheliegend. Doch wo das größte und optimale Abwärmepotenzial liegt, ist oftmals nicht bekannt.

Wo schlummert die Abwärme? Eine Frage der Messtechnik

Eine Erkenntnis aus der Befragung und den Vor-Ort-Untersuchungen besteht darin, dass die Datenlage beim Thema Abwärme bisher sehr ungenau ist. In vielen Betrieben schlummern große Potenziale, die von bisherigen Abschätzungen nicht erfasst werden. So werden Abwärmeströme von Anlagen oft nicht an den Punkten gemessen, an denen sie technisch optimal genutzt werden könnten. Stattdessen rechnen die Unternehmen meist mit der niedrigeren Austrittstemperatur von Abgasströmen, weil diese für Emissionsdaten ohnehin bereits erhoben werden. Die Zahlen zeigen jedoch nicht, ob sich an vorgelagerten Stellen im Prozess hochwertigere Abwärmeströme nutzen lassen.

Beim Thema Abwärme braucht es mehr als nur eine Lösung

Wie sich Abwärme effizient und vor allem wirtschaftlich nutzen lässt, hängt auch von der jeweiligen Technologie ab. Die Forschenden aus dem Projekt Abwärmeatlas haben daher auch den Stand der Technik und der Forschung von verschiedenen Technologien zur Abwärmenutzung und -speicherung ermittelt. Den Fokus legten sie dabei auf kurz- und mittelfristig einsetzbare Techniken sowie auf einfach zu implementierende Systeme.

„Viele verschiedene Technologien und Derivate der einzelnen Technologien zur Abwärmenutzung stehen in den Startlöchern“, sagt Dr. Olaf Schäfer-Welsen. „Alle haben Vor- und Nachteile und keine Technologie kann alle Anwendungen bedienen. Angesichts der sehr vielfältigen Abwärmequellen bedarf es daher einer Vielzahl an Technologien, um die energetischen Verluste reduzieren zu können.“

Diese individuellen Lösungen sind aber nur schwer skalierbar und entsprechend kostenintensiv. Die Forschenden kamen daher zu dem Ergebnis, dass zum Zeitpunkt der Untersuchung die Abwärmenutzung und speziell die Abwärmeverstromung nur bedingt wirtschaftlich sei. Abzusehende energiepolitische Maßnahmen (zum Beispiel eine steigende CO2-Bepreisung) könnten hier allerdings die Rahmenbedingungen zugunsten der Abwärmenutzung verschieben. Da das Forschungsprojekt Abwärmeatlas 2018 abgeschlossen wurde, sind bei dieser Bewertung jedoch die in 2022 jüngst beobachteten drastischen Preissteigerungen auf den Energiemärkten nicht eingeflossen.

Verstecktes Abwärmepotenzial

Warum das Abwärmepotenzial einer Anlage oft zu gering eingeschätzt wird, zeigt das Beispiel eines Keramik-Brennofens, mit dem etwa Geschirr hergestellt wird. Zu Beginn des Prozesses erhitzt der Ofen das Rohmaterial auf rund 1.200 Grad Celsius. Danach wird es stufenweise abgekühlt. Abwärme entweicht dabei an zwei Stellen: Zum einen wird das in der Brennzone entstandene Rauchgas aus dem Ofen abgezogen. Zum anderen entweicht Prozessluft im hinteren Teil des Ofens.

Über die Emissionsdaten wird nur die Abwärme des Rauchgases erfasst. An der Messstelle ist dieses bereits deutlich abgekühlt — auch zum Schutz von Pump-, Gebläse- und Filteranlagen. Unmittelbar nach dem Brennvorgang ist die Abluft jedoch noch sehr viel heißer. Hier beträgt die Temperatur zwischen 800 und 1.000 Grad Celsius. Mit einem separaten Abzug, der die Abwärme einem Wärmeübertrager zuführt, könnte diese heiße Abwärme entnommen und verwertet werden.

Ähnlich sieht es in vielen industriellen Prozessen aus, vor allem bei Schmelz- und Brennvorgängen. Hochwertige Wärmeenergie bleibt nicht nur ungenutzt, sondern wird auch nicht erfasst.

Wärmeübertrager sind von besonders großer Bedeutung

Auf Basis ihrer Untersuchungen haben die Forschenden von Abwärmeatlas verschiedene Handlungsempfehlungen zusammengestellt. Technologien zur Abwärmenutzung sollten bereits früh im Produktionsprozess eingebunden werden. Das bedeutet: Abwärme sollte mit möglichst hoher Temperatur ausgekoppelt und nicht erst genutzt werden, wenn sie schon am „kalten“ Ende eines Prozesses angekommen ist. Damit dies möglich ist, ohne den Prozess selbst zu gefährden, ist Expertenwissen essenziell. Deshalb empfehlen die Forschenden eine Austauschplattform, über die Experten und Unternehmen zusammenkommen können.

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Ist die Abwärme am „kalten“ Ende angekommen, ist ihr volles Potenzial verspielt.

Zudem kommen die Projektpartner zu dem Schluss, dass vor allem den Wärmeübertragern, umgangssprachlich auch Wärmetauschern, eine besondere Bedeutung zukommt. Diese entscheiden, wie effizient Wärmeenergie dem Abwärmestrom entzogen und auf ein anderes Medium übertragen werden kann — etwa von einem Abgasstrom auf Wasser für die Warmwasserversorgung. Dabei sind Rückwirkungen auf den Prozess nicht erwünscht. Gute Wärmeübertrager sind zudem ein erheblicher Kostenfaktor. Daher sind sie insbesondere mit technologiespezifisch angepassten Eigenschaften von zentraler Bedeutung.

Im Ergebnis der vielschichtigen Untersuchungen empfehlen die Forschenden, die Abwärmenutzungstechnologien weiter zu erforschen und auch den Ergebnistransfer zu fördern. Dabei sollte vor allem auch ein Fokus darauf liegen, Markteintrittsbarrieren überwinden zu können.

„Nur durch eine ganzheitliche technisch-ökonomische Betrachtung einer möglichst großen Zahl von Industrieprozessen kann eine ausreichende Daten- und Kenntnisbasis geschaffen werden“, sagt Dr. David Bach vom Fraunhofer IPM. „Mit diesem Wissen können gezielte Maßnahmen ergriffen werden, um Abwärme zukünftig effizient zu nutzen.“

Details zum Forschungsprojekt Abwärmeatlas, Messdaten und alle Handlungsempfehlungen sind im Abschlussbericht zusammengefasst. (ks)

„Nur durch eine ganzheitliche technisch-ökonomische Betrachtung einer möglichst großen Zahl von Industrieprozessen kann eine ausreichende Daten- und Kenntnisbasis geschaffen werden. Mit diesem Wissen können gezielte Maßnahmen ergriffen werden, um Abwärme zukünftig effizient zu nutzen.“
Dr. David Bach vom Fraunhofer IPM