Reallabor der Energiewende: TransUrban.NRW
Niedertemperatur ersetzt Kohle-Infrastruktur
Zahlreiche Städte und Gemeinden haben sich ehrgeizigen Klimaschutzzielen verpflichtet, um CO2-Emissionen zu senken. Einen bedeutsamen Beitrag kann die Transformation der Wärme- und Kälteversorgung leisten: Die großflächige Einbindung von Abwärme, die direkte Einspeisung erneuerbarer Energien und eine konsequente Nutzung der Sektorenkopplung ist die Grundlage für eine erfolgreiche Wärmewende. Die Infrastruktur dafür bieten Energiesysteme der 5. Generation, die perspektivisch einen wirtschaftlich tragbaren Übergang in eine klimafreundliche Versorgung ermöglichen können. Wie dies in der Praxis aussehen kann, untersuchen jetzt Expertinnen und Experten vor Ort in Nordrhein-Westfalen.
Mit TransUrban.NRW startet das zweite Reallabor der Energiewende. An insgesamt vier Standorten in Nordrhein-Westfalen werden hier Grundlagen für eine klimafreundliche Energieversorgung gelegt. Kürzlich fand bereits das Richtfest im Mönchengladbacher Seestadt-Quartier statt. Das Reallabor TransUrban.NRW zählt zu den Gewinnern des Ideenwettbewerbs Reallabore der Energiewende, die der damalige Bundeswirtschaftsminister Peter Altmaier im Juli 2019 verkündet hat. Die „Reallabore der Energiewende“ bringen innovative Technologien in die Anwendung und erproben sie im industriellen Maßstab und unter realen Bedingungen.
Auf dem Weg zum Niedertemperatur-System
TransUrban.NRW soll zeigen, wie klassische Fernwärmeversorgungsgebiete in den Kohlerevieren in CO2-arme Versorgungssysteme verwandelt werden können. Aktuell werden die Fernwärmenetze auf hohen Systemtemperaturen betrieben, um Wärme aus der Kohleverstromung und hochtemperierter Abwärme zu nutzen. Die Hochtemperatur- und Dampfnetze sind dadurch nicht in der Lage, erneuerbare Energien (etwa Geothermie oder Abwasserwärme) und Niedertemperatur-Abwärmequellen effizient einzubinden. TransUrban.NRW wird zeigen, wie die Hochtemperatur-Energieinfrastruktur in ein Niedertemperatur-Energiesystem umgewandelt werden kann. Dies ändert auch die Rolle der Fernwärmenetzbetreiber und Stadtwerke: Vom Energielieferanten werden sie zum Anbieter digitaler Energie-Plattformen.
Systemtemperaturen drastisch reduzieren
Sogenannte Energiesysteme der 5. Generation bilden die Basis für einen schrittweisen Umbau von der fossilen in eine regenerative Wärmeversorgung. Hierbei handelt es sich um Anergie- und LowEx-Systeme im Temperaturbereich von circa 10 bis 40° Celsius. Sie reduzieren die Systemtemperaturen im Vergleich zu Fernwärmenetzen drastisch. Niedrig temperierte Abwärme und erneuerbare Energie können so in großem Umfang genutzt werden. Außerdem ermöglichen die neuen Systeme eine Wärmeverschiebung zwischen Erzeugern und Verbrauchern: Gebäude erhalten zum Beispiel die Abwärme von anderen Gebäuden, Rechenzentren oder Industrieanlagen, die zum gleichen Zeitpunkt gekühlt werden müssen. Die erforderlichen Niedertemperatur-Netze können sowohl neu errichtet als auch in die bestehende Infrastruktur integriert werden.
Wärme wird elektrisch
Die angestrebten Ziele sind nur mit einer Elektrifizierung der Wärmeversorgung möglich. Das heißt, Power-to-X Technologien spielen eine wichtige Rolle: Wärme-, Kälte- und Stromsektor werden intelligent miteinander gekoppelt. So kann etwa lokaler PV-Strom mit einem hohen Anteil erneuerbarer Energie die Wärmeversorgung über Wärmepumpen unterstützen. Eine intelligente Steuerung der Netztemperatur ist hierfür Voraussetzung. Saisonale Speicher oder Kurzzeitspeicher erhöhen dabei die Flexibilität.
Neue Verfahren erfordern neue Geschäftsmodelle
Wenn die Wärmeversorgung zu großen Teilen auf Strom basiert, sind die Betreiber und Kunden vom Strompreis-Modell abhängig. Aus aktueller Sicht ist dies für die Energieversorger wirtschaftlich wenig attraktiv. In TransUrban.NRW untersuchen die Expertinnen und Experten, wie man den regulatorischen Rahmen optimieren und Anreizmechanismen schaffen kann. Außerdem entwickeln sie neue Geschäftsmodelle für Betreiber: Diese können etwa die Themen Kältebereitstellung, Elektromobilität oder strompreisbasierte Fahrweise von Wärmepumpen umfassen. Hierbei wird auch berücksichtigt, dass Kunden zunehmend als „Prosumer“ auftreten. Das heißt, sie fungieren gleichzeitig als Energieerzeuger und Energiekonsumenten.
In den innerstädtischen Quartieren sollen die Energiesysteme der 5. Generation in der Praxis getestet werden. Jedes der vier Reallabor-Quartiere steht für einen Innovationsschwerpunkt und unterscheidet sich in seiner Struktur. Die Ergebnisse können auf jeweils ähnlich strukturierte Standorte in Deutschland übertragen werden. Die Erzeugung und Verteilung der Wärme und Kälte erfolgt in den vier Quartieren dezentral. Jedes Quartier hat ein eigenes Niedertemperatur-Nahwärmenetz und daran geknüpft eine eigene Energieplattform. (bs)
Die vier Quartiere im Profil
Auf dem ehemaligen Gelände der Ruhrkohle AG soll in den nächsten Jahren ein nachhaltiges Wohn- und Geschäftsquartier entstehen. Geplant ist ein Energiesystem der 5. Generation zur Deckung eines Wärmebedarfes von etwa 8.000 MWh p.a. und eines Kältebedarfs von etwa 4.000 MWh p.a. Folgende Maßnahmen sind geplant:
- Niedertemperatur-Abwärme soll aus dem angrenzenden Chemiepark bezogen werden, Photovoltaik wird zur erneuerbaren Eigenstromversorgung der Technikzentrale und der EV-Ladeinfrastruktur eingesetzt
- Optimierung der Eigenstromnutzung der Wärmepumpen und Lastmanagement, insbesondere über thermische Großwärmespeicher und Pufferspeicher sowie integrierte Optimierung aller Komponenten zur Nutzung des Systems selbst als Speicher
- Wärmetauscher in allen Neubauten zur passiven Kühlung der Gebäude ohne Notwendigkeit von aktiver Erzeugung
- Ertüchtigung des Gebäudebestandes: klimafreundliche Versorgung des Bestandes mittels Fan-Coils / Klimakassetten in Ergänzung zu bestehenden Heizkörpern und somit Nutzung der Niedertemperatur-Eingangsenergie aus dem thermischen Netz anstelle einer BHKW-basierten Versorgung.
- Entwicklung von Geschäftsmodellen für die Ertüchtigung von Stadtwerken zur Identifikation und breiten Nutzung von Niedertemperatur-Abwärme
Eckdaten des Quartiers
Bruttogeschossfläche (BGF): 103.000 m²
Nutzungsmix/ Gebäudetypen: 82.800 m² Büro & Gewerbe, 20.200 m² Wohnen & Seniorenheim; 49.000 m² Bestandssanierung, 54.000 m² Neubau
Voraussichtlicher Baustandard in der Wohnbebauung: KfW 55
Neben dem ehemaligen Gelände des Güterbahnhofs in Mönchengladbach entsteht ein Mischquartier mit circa 220.000 m² Wohn-/Gewerbefläche. Es wird ein Bedarf von circa 10 GWh/a Wärme und rund 3 GWh/a Kälte für die Gebäude des Quartiers Seestadt mg+ prognostiziert. Zur Versorgung der einzelnen Liegenschaften ist die erstmalige Erprobung eines Energiesystems der 5. Generation geplant. Es sind unter anderem folgende Maßnahmen vorgesehen:
- Untersuchung der Einbindung von Erdwärme über ein Geothermie-Sondenfeld unter dem See mit unterschiedlichen Einbindungs- und Optimierungsarten
- Simulation der direkten Nutzung des Sees als erneuerbare Eingangsenergiequelle (Seeabsorber) und Variantenvergleich mit Geothermie-Sondenfeld
- Optimierung des Energiesystems der 5. Generation und der Wärmepumpen bezogen auf Verfügbarkeit dargebotsabhängiger Energie auf Basis von Wetterprognosen (Sonneneinstrahlung),
- Untersuchung einer Versorgung des umliegenden Gebäudebe-standes über das Energiesystem von Seestadt mg+
- Durchführung von Bürgerbefragungen
- Entwicklung von Geschäftsmodellen, um den Anschluss an das System anzureizen.
Eckdaten des Quartiers
Mischquartier mit 220.000 m² Bruttogeschossfläche (BGF), davon: Wohnen 160.000 m², Gewerbe 35.000 m², Einzelhandel 25.000 m², Kindertagesstätte 200 m².
Voraussichtlicher Baustandard in der Wohnbebauung: KfW 55
Besonderheiten: Das Quartier liegt in einer Strukturwandelregion.
Auf einem 68.000m2 großen Areal von Erkrath wird das alte Gewerbegebiet „Am Wimmersberg“ zu einem Wohnquartier umgewandelt. Mittelgroße Wohnquartiere wie hier sind die am häufigsten gebauter Quartiersvariante in Deutschland. Mit der Umsetzung eines Energiesystems der 5. Generation wird unter anderem die Bereitstellung von Kälte im sozialen Wohnungsbau untersucht. Folgende Schwerpunkte werden hier untersucht:
- Geschäftsmodelle für bezahlbare Versorgung mit Raumkühlung
- Untersuchung von Asphaltkollektoren als Energiequelle, auch zur Regeneration Geothermie-Feld
- Einsatz eines Gethermie-Sondenfelds als saisonaler Speicher, kleinere Auslegung angelegt am Kältebedarf
- Untersuchung Potenzial Brunnenwasserwärme als Energiequelle
- Entwicklung von Konzepten für Wärmenetzsysteme bei ausgeprägten Höhenunterschieden von insgesamt 30 Meter.
Eckdaten des Quartiers
Bruttogeschossfläche (BGF): 76.000 m²
Nutzungsmix: Wohnen 75.400 m² Neubau und Kindertagesstätte, 600 m² Neubau
Wohneinheiten: ca. 765
Voraussichtlicher Baustandard in der Wohnbebauung: KfW 55
Die ehemalige Kokerei liegt seit 1993 brach. Auf 40.000 Quadratmetern entsteht hier ein reines Wohnquartier. Der Wärmebedarf setzt sich aus circa 500 MWh Heizung und rund 400 MWh p.a. für Trinkwarmwasserbereitung zusammen. Auf der Kälteseite wird von einer lediglich passiven Kühlung und einer Anschlussquote von 80 % ausgegangen. Bei der passiven Kühlung strömt kaltes Wasser aus dem Geothermiefeld durch die Fußbodenheizung und entzieht so den Wohnräumen die Wärme. Die so genannte “Temperierung“ entspricht ca. 80 MWh p.a Kälte. Folgende Aspekte werden hier untersucht:
- Energiesystem 5. Generation für kleine Wohnquartiere mit niedriger Siedlungsdichte: Erfolgsfaktoren und mögliche Untergrenze bei Quartiersgröße
- Geschäftsmodelle für Kälteversorgung
- Einbindung Geothermie als Energiequelle
- Nutzung der Umgebungsluft als alternative Energiequelle
- Erfolgsfaktoren für die Nachverdichtung von Fernwärmesystemen
Eckdaten des Quartiers
Bruttogeschossfläche (BGF): 20.000 m²
Nutzungsmix: Wohnen
Voraussichtlicher Baustandard in der Wohnbebauung: KfW 55